Biographie

Die von Ebbinghaus vorgetragene Programmatik einer Befreiung der Kantischen Philosophie von den seit mehr als einem
Jahrhundert aufgetürmten Mißverständnissen und Entstellungen, die ihm zu verdankende unerwartete und zunächst ganz
unglaubliche Einsicht, daß die tausendfach erörterte, kommentierte, fortgebildete und angeblich widerlegte Kantische
Philosophie in Wahrheit eine Unbekannte sei, die ihrer Entdeckung noch harrte, hat durch die Arbeiten von Klaus Reich
und insbesondere durch sein Erstlingswerk an Überzeugungskraft und sogar an Evidenz gewonnen.

Trotz seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Philosophie Kants
war Reich von einer bekenntnishaften Kantorthodoxie weit entfernt.
Wenn er, der große Gelehrte, dessen umfassendes historisches
Wissen und genaue Kenntnis der bedeutenden Texte der Vergangen-
heit keinen Vergleich zu scheuen brauchten, aufgrund seiner
kritischen Scheidung des Unhaltbaren vom Weiterführenden in der
Geschichte des philosophischen Denkens zu dem Ergebnis kam,
daß es die Philosophie Kants sei, die es am meisten verdiente,
analysiert, erklärt und verteidigt zu werden, so war diese philo-
sophiehistorische Option gegründet in einem ganz gegenwärtigen
Interesse an der Wahrheit und Begründbarkeit von Erkenntnis, fernab
von einer Vorliebe des Historikers für bestimmte Epochen und von
einer sich selbst genügenden philologischen Hermeneutik. Reich
glaubte, daß Kant, insbesondere in seiner Raumtheorie, in seiner
Urteilslehre und in der Rechtsphilosophie, auf einen trag- und aus-
baufähigen festen Grund gestoßen sei, aber seine vom Geiste der
Kritik durchdrungenen historischen Studien waren in der Heraus-
arbeitung der kantischen Problemstellungen und der Entwicklungs-

geschichte ihrer Lösungen letztlich allein an der ganz unhistorischen Frage nach den zureichenden Gründen der unter-
suchten Behauptungen, also an systematischer Philosophie interessiert. Seine so verstandene und praktizierte Prüfungs-
kunst behielt sich jederzeit vor, die Unhaltbarkeit der rekonstruierten Gedankengänge aufzudecken, und da diese Mög-
lichkeit auch in Zukunft jederzeit bestand, so galt auch hinsichtlich der kantischen Wahrheitsansprüche selbstverständ-
lich das skeptische non liquet. Nicht zwar als Ruhekissen der ignava ratio, sondern als Aufforderung zu ferneren Unter-
suchungen und einer selbständigen Lösung der Kantischen Probleme, die sich vor den wohlbegründeten Ansprüchen der
heutigen Wissenschaft zu rechtfertigen vermöchte. Dieser Geist der Aufklärung wurde von einem Manne repräsentiert,
der sich der Unzeitgemäßheit seiner Denkungsart wohl bewußt war und der die damit unvermeidlich verbundene Außen-
seiterstellung insofern gerne auf sich nahm. Sein Verhältnis zur gößten Philosophie der Vergangenheit, das eine Ent-
sprechung nur in der Geschichte der exakten Wissenschaften und nicht in der der Kunst oder Dichtung findet, hat
niemand besser gerechtfertigt als der revolutionäre Denker Kant selbst: "Wenn man Erfinder sein will, so verlangt man
der erste zu sein; will man nur Wahrheit,so verlangt man Vorgänger." (Ak XVI, 255; R 2159)


Quelle: Manfred Baum, Wuppertal